48h WASTE LAND

Installation, Performances, Filme, Mikrobenlabor mit Wutrede vom 9.-11. Juni 2016

Ein Projekt von Daniel Fetzner und Martin Dornberg im Kommunalen Kino Freiburg

48h WASTE LAND verhandelt die Frage, wie Materie, Organismen und Geographien im Zeitalter der Technosphäre als relationale Verbindung auf einer Ebene mit dem Menschen gedacht werden können. Die künstlerische Forschung fokussiert auf umweltliche Gefügebildungen und den Umgang mit Ressourcen im Vergleich zweier Müllverwertungssysteme in Kairo und in Südbaden. → English

Daten, Gedanken und Bakterien schlafen nicht – die Ausstellung ist daher über 48 Stunden Tag und Nacht geöffnet. Neben einer Soundinstallation mit Livedaten aus der Müllstadt in Kairo und der Müllverbrennungsanlage Eschbach werden in einem temporären Biolabor Mikroorganismen von beiden Orten auf ihre Merkfähigkeit hin untersucht.

DONNERSTAG 09.06.
19:00 Uhr »The Iron Ministry« ( J.P. Sniadecki | USA 2014 | 82 Min)
20:30 Uhr Eröffnung 48h WASTE LAND mit Liveperformance von Harald Kimmig und Ephraim Wegner
22:00 Uhr »Spiral Jetty« (Robert Smithson | USA 1970 | 32 Min)

FREITAG 10.06.
14:30-18 Uhr Seminar 1 mit Jean-Luc Nancy – Teilnehmerzahl begrenzt, Freitag/Samstag nur nach → Anmeldung
19 Uhr »Vers Nancy« (Claire Denis | Frankreich 2002 | 10 Min.)
im Anschluss Gespräch mit Jean-Luc Nancy
21 Uhr »Zabriskie Point« (Michelangelo Antonioni | USA 1970 | 110 Min.)

SAMSTAG 11.06.
03 Uhr Gegenrede/Wutattacke »Dionysische Materien-Wandlungen« mit Tomas Wald
10-12 Uhr Seminar 2 mit Jean-Luc Nancy (s.o.)
19 Uhr »All that is solid« (Louis Henderson | Frankreich 2014 | 15min)
im Anschluß: Szenische Lesung von Jürgen Reuss. Mit Daniel Fetzner und Videoaufnahmen aus Kairo und Eschbach zur Null-Personen-Perspektive.

»When a thing is seen through the consciousness of temporality, it is changed into something that is nothing.«

→ Robert Smithson

1. KONTEXT

Der Ausbruch des Tambora-Vulkans im April 1815 bewirkt Unabsehbares. Megatonnen an Staubteilchen werden durch Luftströmungen rund um die Erde verteilt und führen 1816 zum »Jahr ohne Sommer«. Folge der Eruption sind neben Missernten, Hungersnöten und politischen Revolten auch Kulturartefakte wie die grandiosen Abendstimmungen in den Gemälden von William Turner. 1844 beschreibt der Biologe Ehrenberg den transkontinentalen Austausch des von Mikroorganismen durchsetzten Passatstaubs als »Blutregen«. Äquivalent dazu gibt es im → Anthropozän vom Menschen hergestellte Partikelströme wie nuklearer Fallout, ozeanische Inseln aus Plastikmüll und die atmosphärische Konzentration von CO2.

48h WASTE LAND produziert → Smartdust und stellt dabei die Frage nach dem Umgang mit Ressourcen. Die künstlerische Forschung arrangiert die mit den Themen Anthropozän/Müll verbundenen affektiven, synästhetischen, rationalen und medialen Datenströme zu neuen, andersartigen Mustern. Das Projekt möchte so über das Schrauben an Recyclingquote, Ressourceneffizienz und Energiesparen hinaus die gewohnten Denkmuster zum System Abfall aufbrechen.

2. DAS ANTHROPOZÄN UND DER MÜLL

»Das Geerdete, Enterdete und Unterirdische der Infrastrukturen von Medien bedingen, was sichtbar und was unsichtbar ist. Dies ist eine Frage von Machtverhältnissen und umstrittenen Territorien. Die Erde ist sowohl als Ressource wie als Übertragung Teil der Medien.« Jussi Parikka

Der Anthropozän genannte, ins geologische gesteigerte Einfluss des Menschen auf die Erdgeschichte, wird vor allem am Ausstoß seiner technologisch potenzierten Stoffwechselrate festgemacht. Die Abfallproduktion wird dabei zur größten planetarischen Gestaltungsmacht und »Fußspur« des Menschen. Was bedeutet es aber, die größte gestalterische Kraft der Menschheit als Abfall zu bezeichnen und das Anthropozän als (ungewolltes?, unbewusstes?, ungenutztes?, unvermeidbares?, gefährliches?) Abfallprodukt industrieller und kultureller Transformationsprozesse zu betrachten? Im Einzelnen lassen sich beliebige Reststoffe genauestens analysieren, aber was macht einen Stoff zu Müll? Ist nicht jedes Produkt eine Art Emission, die feinverteilt in der Konsumentenumwelt entsorgt wird? (Schenkel/Faulstich, 1993)

Abfall ist weniger ein Ding als ein relationales Netz, ein Ergebnis diverser Zuschreibungen. Die Codierung von Abfall als etwas nicht mehr Brauchbares gibt es nur in anthropogen beeinflussten Systemen. Für Paläoanthropologen sind Müllfunde der entscheidende Hinweis für die Rekonstruktion der Menschwerdung. Müll ist insofern das Signet des Anthropozäns schlechthin, ein höchst komplexer Kulminationspunkt gesellschaftlicher, individueller, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Transaktionen.

48h WASTE LAND konzeptualisiert Müll genau in diesem Sinne, um das Anthropozän nicht im Denkmuster einer katastrophisch vorweggenommenen geologischen Segmentierung eines fatalistisch-zweckrationalen Umgangs mit Ressourcen thematisch einzufrieren. Die Rückkehr des Mülls mit all seinen chemischen, philosophischen, olfaktorischen, digitalisierten Daten eröffnet die Möglichkeit, das System der Materialströme jenseits der Illusion zu begreifen, dass sich ein Konstrukt wie Abfall aus dem Gesamtbilanzraum der Erde beseitigen ließe. Nicht zuletzt unser Verhältnis zum Abfall entscheidet, ob das Anthropozän einmal etwas anderes sein wird, als ein Euphemismus für das größte und schnellste Abfackeln unterirdischer Energiespeicher, die pflanzliche Organismen in den Jahrmillionen vorangegangener geologischer Zeitaltern durch Fotosynthese in der Biosphäre angelegt haben.

3. ZWEI VERWERTUNGSSYSTEME

»Die Epidemie bringt ganz unterschiedliche Terme ins Spiel, wie zum Beispiel einen Menschen, ein Tier und eine Bakterie, einen Virus, ein Molekül und einen Mikroorganismus.« Deleuze/Guattari in ›Tausend Plateaus‹

Rund 40.000 Menschen leben in Mokattam Village/Kairo. Seit den 1940er Jahren betreiben sie dort ein informelles Müllverwertungssystem in der Megacity am Nil. Die Zabbaleen (arabisch ‏زبالين‎, »Müllmenschen« dt. Wikipedia übersetzt »Müllsucher«, auch »Müllsammler«) recyceln den von ihnen gesammelten Abfall. Etwa 10.000 Tonnen Müll sortieren sie täglich von Hand in ihren Häusern. Ein wichtiger Faktor des Verwertungssystems sind Schweine, die den organischen Abfall fressen und als Schlachtvieh der Fleischversorgung dienen. Die Exkremente der Tiere werden an eine Kompostieranlage in einer Kairoer Vorstadt geliefert.

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Die Situation in Eschbach/Breisgau zeigt ein komplett anderes Bild. Dort am Fuße des Schwarzwalds steht eine hochmoderne Müllverbrennungsanlage. Die Müllverarbeitung ist hochgradig automatisiert und wird ausschließlich von Maschinen besorgt. Die Industrieanlage verbrennt 170.000 Tonnen Abfall jährlich und erzeugt damit 15 Megawatt Strom und Schlacke, die im Strassenbau Verwendung findet. Im Umkreis von fünf Kilometern befinden sich ein Atomkraftwerk und eine Unterkunft für 450 Flüchtlinge.

Die Müllverbrennungsanlage in Eschbach als zentraleuropäischer State of the Art der strikten Trennung von Müll und Mensch erzielt eine Recyclingquote von 30%. Die Müllmenschen von Kairo, für die der Abfall ihr Ökosystem ist, verwerten in großer Armut sowie unter unhaltbaren hygienischen Bedingungen über 90% des Materials.

4. THEORIE

»The universe is composed both of matter and information, which are inseparable in their relationship with each other.« Michel Serres

Relationale Netze, Abfall und das Parasitäre bilden Zentren der gegenwärtigen Medienökologie. Welche materiellen und informationellen Verbindungen existieren zwischen unterschiedlichen Milieus? Welcher Austausch von Dingen, Geschichten und Partikeln findet dort statt? Wie verwickelt ist ein Beobachter in diesen Stoffwechsel, wenn er nicht mehr auf die Dinge blickt, als vielmehr verwoben aus den Dingen heraus lebt?

Die Forschung von 48h WASTE LAND fokussiert auf den globalen Austausch von Energie und Narrative. Die Aktanten und Aktionen, welche in beiden Umwelten eingebettet sind, verbinden die Thermodynamik mit dem Informationellen. 48h WASTE LAND exploriert die ästhetische Dimension dieser → Strukturellen Kopplung als Vergleich zwischen Mokattam Village/Kairo und der Müllverbrennungsanlage in Eschbach/Baden. Das Experimentalsystem kann im Sinne von Jean-Luc Nancy als »Struktion« aufgefasst werden, als eine »nicht koordinierte Gleichzeitigkeit von Dingen oder Wesen, die Kontingenz ihrer Kozugehörigkeiten, die Streuung im Wuchern von Aspekten, Arten, Kräften, Spannungen und Intentionen (Instinkten, Trieben, Projekten, Elanen). In dieser Fülle macht sich keine Ordnung über die andere geltend: Sie scheinen alle - Instinkte, Reaktionen, Konnektivitäten, Gleichgewichte, Katalysen, Stoffwechsel - dazu bestimmt, sich ineinander zu verfangen, wechselseitig zu erfassen, sich gegenseitig aufzulösen oder sich miteinander zu vermischen und durcheinanderzugeraten.« Jean-Luc Nancy

Relationale Netze, Abfall und das Parasitäre stehen für eine neue Ontologie und eine neue Kybernetik. Für eine biomediale Ökologie, die auf der einen Seite Überfluss und Komplexität, auf der anderen Störungen, Auslöschungen und Kontingenzen produziert.

Topographie der Garbage City in Kairo

Auf Anordnung von Gamal Abder Nasser wurden viele Kopten bis 1970 nach Mokattam umgesiedelt. Zwischen dem historischen Stadtzentrum, der Müll- und Totenstadt befindet sich heute der Al Azhar Park, errichtet auf einer Mülldeponie, die sich in den letzten 500 Jahren aufgetürmt hatte.

Die Bruchkante zur Hochebene Mokattam ist 40 Millionen Jahre alt und stammt aus dem → Mittleren Eozän

5. MEDIENÖKOLOGISCHES EXPERIMENTALSYSTEM

Translokale Installation mit Performances, Filmen und Diskussionen
9.-11. Juni 2016 im Kommunalen Kino und im Theater Freiburg

Aus beiden Umwelten – der Müllstadt in Kairo und der Müllverbrennungsanlage in Eschbach – übertragen Webcams flüchtige Eindrücke von Menschen, Tieren und Maschinen. 48h WASTE LAND transformiert diese Daten in eine sinnlich-auditive Erfahrung für die BesucherInnen.

Ein Mikrofon registriert die Umgebungsgeräusche im Ausstellungsraum, die von der Programmierung ebenfalls interpretiert werden. Zur Eröffnung findet in diesem medienökologischen Experiemntalsystem eine Abendperformance mit den Freiburger Improvisationsmusikern Ephraim Wegner und Harald Kimmig statt.

Persönliche Geschichten, Videoassemblagen und Mikroorganismen der beteiligten Orte ergänzen den hyperlokalen Austauschprozess – medienökologische Katastrophenreaktionen* sind nicht ausgeschlossen. Der französische Philosoph → Jean-Luc Nancy wird sich im Theater Freiburg und im Kommunalen Kino mit Fachleuten unterschiedlicher Disziplinen, Künstlern sowie interessierten Laien direkt und mit seinem Kollegen → Graham Harman von der American University in Cairo per Skype über die Thematik des Anthropozän und der Körper/Dinge heute sowie über 48h WASTE LAND austauschen. Beide Philosophen plädieren für eine Stärkung der objektrelationalen Beziehungen.

* Begriff des Gestalttheoretikers Kurt Goldstein. Bei jeder Figur-Grundbildung des Organismus mit der Umwelt kommt es aufgrund von Phasenverschiebungen immer wieder zu Katastrophenreaktionen. Diese äussert sich in Form von Angst, bis sich wieder ein adäquates Milieu ausbildet. (Goldstein 1934, 235f.)

Relationale Netze, Abfall und das Parasitäre bilden Zentren der Medienökologie.

Welche Materialien und informationellen Verbindungen existieren zwischen Milieus? Welcher Austausch von Dingen, Zeichen und Partikeln findet statt? Wie interveniert der Beobachter in den Stoffwechsel?

6. PERSONEN

Idee, Konzept und Forschung: Daniel Fetzner und Martin Dornberg. Mit Ephraim Wegner, Harald Kimmig, Simon Schwab, Bernd Dudzik und Jürgen Reuss.

OFFENBURG: Max Peter Grummel, Aylin Aslantas, Fabian Edmüller, Joschka Nohe, Jeffrey Schweitzer, Daniel Siegel, Sebastian Klemm, Katrin Phyllis Schneider, Nicola Götz, Viktor Säbelfeld, Mathieu Conrad, Yannick Knabbe, Sevda Yalcin, Daniel Baselski, Alaa Elbin Essam und Omar Kassen.

KAIRO: Mona Diab (Coordination), Christian Dootz, Lamiaa Khaled Diab, Amina Ahmed Shafiq, Tasneem Abd El Hamid Ali und Rana Hossam Allam.

In Kooperation der künstlerischen Forschungsgruppe mbody mit dem Kommunalen Kino Freiburg, dem Theater Freiburg, dem Goethe Institut Cairo, der Hochschule Offenburg, der Universität Freiburg sowie der German University in Cairo. Mit freundlicher Unterstützung vom Freundes- und Förderkreis der Hochschule Offenburg sowie von MENA, einem Projekt des Goethe-Instituts finanziert vom Auswärtigen Amt.

6. LITERATUR

  • Behringer, Wolfgang (2015): Tambora und das Jahr ohne Sommer. München: Beck
  • Caviezel, Falvia (2015): Times of Waste
  • Davis, Heather (2015): Art in the Anthropocene. London: Open Humanities Press
  • Fetzner, Daniel/Dornberg, Martin (2015): Intercorporeal Splits. Leipzig: Open House
  • Dornberg, Martin (2013): Die zweigriffige Baumsäge. In Breyer (Hg.): Grenzen der Empathie. Paderborn: Fink
  • Ehrenberg, Christian Gottfried (1844): Passat-Staub und Blut-Regen.
  • Eliot, T.S. (1922): The Waste Land.
  • Gurnard, Marion (2013): Cairo puts its faith in ragpickers to manage the city's waste problem. The Guardian
  • Harman, Graham (2012): The Third Table. Ostfildern: Hatje Cantz
  • Hörl, Erich (2011): Die technologische Bedingung. Frankfurt/M: Suhrkamp
  • Lefebvre, Henri (1990): Rhythmanalysis
  • Miyazaki, Shintaro (2013): Algorhythmisiert. Kadmos: Berlin
  • Morton, Timothy (2015): Hyperobjects. UMP: Minneapolis
  • Parikka, Jussi (2015): The Anthrobscene. Minneapolis: UMP
  • Platel, Alain (2014) Tauberbach. Dance Performance. Kammerspiele: München
  • Reuss, Jürgen (2013): Kaufen für die Müllhalde. Freiburg
  • Serres, Michel (1980): The Parasite. Baltimore: John Hopkins University Press
  • Smithson, Robert (1968): A Sedimentation of the Mind: Earth Projects. Artforum
  • Pacific Trash Vortex
  • Mokattam

VORARBEITEN