EMBEDDED PHASE DELAY 2012/13

MEDIALITÄT DES RHYTHMUS | » ENGLISH

Abschliessendes Teilprojekt der Medienexploration Intercorporeal Splits

»Der Rhythmus wirkt nicht in einem homogenen Zeitraum, sondern operiert mit heterogenen Blöcken. Er ändert die Richtung.« Deleuze/Guattari in Tausend Plateaus (1980, S. 429)

Performance zur ›fehlenden Halbsekunde‹ (Helmholtz 1851) zwischen Media Markt, Kammerbühne und Insektenlabor

EMBEDDED PHASE DELAY ist ein Raum und Zeit umspannendes Performance-Experiment. Ein Tabla-Spieler im Insektenlabor in Bangalore, ein Tänzer im Media Markt Haslach und ein elektronischer Musiker in der Kammerbühne Freiburg erforschen rhythmische Resonanzen und minimale Verzögerungen, die bei der Übertragung von Klängen und Bewegungen über das Internet entstehen.

PDF |Badische Zeitung | bodermovement

Zum Forschungskontext: Nach den beiden Skypeperformances zur Medialität von Stimme (Voice Via Violin, 2011) und Haut (PEAU/PLI, 2012) liegt in dem abschliessenden Projekt Embedded Phase Delay der Forschungsschwerpunkt auf dem Thema Rhythmus

Aufführung am 15. Dezember 2012

Kammerbühne Theater Freiburg und Mediamarkt Freiburg 16 Uhr // Bangalore 20:30 Uhr

Tabla: Amjad Khan
Tanz: Graham Smith
Elektronische Musik: Ephraim Wegner
Video: Daniel Fetzner und Jens Dreske

Künstlerische Leitung: Daniel Fetzner und Martin Dornberg

In Zusammenarbeit mit dem Center for Experimental Media Arts CEMA/Bangalore, der Hochschule Furtwangen, dem Finkenschlag/Theater Freiburg sowie der künstlerischen Forschungsgruppe mbody. Mit freundlicher Untersützung des Media Markt Freiburg, der Sparkasse Freiburg, des Kulturamts der Stadt Freiburg sowie der Helmholtz-Gemeinschaft in Berlin

Mit besonderem Dank an Srishti School - Vasanthi Mariadass, Meena Vari, Tanvi Talwar, Sutanoy Chaudhury, Ayisha Abraham // Indian Institute of Science - Raghavendra Gadagkar, Rohini Balakrishnan, Sekhar Muddu, Jean-Jacques Braun, Souvik Mandal, Sreelash K // Hochschule Furtwangen - Nana Fiedler, Christofer Henn, Hanna Mai, Jonas Konstandin, Gennarino Romano, Miriam Vosseler // Marion Mangelsdorf, Wolfgang Klueppel, Maurice Korbel, Jo Zahn und Mario Medewaldt

»If I were a wasp I would have to be as intellectual as I am as a human beeing and not any less.«

Raghavendra Gadagkar Video, 42:07 min

»Lost again. Time is rythm: the insect rhythm of a warm humid night, brain ripple, breathing, the drum in my temple - these are our faithful timekeeprs; and reason corrects the feverish beat.«

Vladimir Nabokov, Ada ord Ador

Story

Die Skypeperformance Embedded Phase Delay verbindet als freie Improvisation drei sehr unterschiedliche Situationen und soziale Räume miteinander. Der Tablaspieler Amjad Khan beginnt die Session in einem Insketenlabor in Bangalore, begleitet von den dortigen Umgebungsgeräuschen. Die so produzierten "Soundwaves" und ein Videosignal werden per Skype mit einer Verzögerung von ca. 0.7 sec auf die Monitorwände des Mediamarkts in Haslach sowie von dort in die Kammerbühne des Freiburger Theaters übertragen.

Im gläsernen Fernsehtempel des Mediamarkts improvisiert der Tänzer Graham Smith zu den Tablarhythmen aus Bangalore und produziert Videobilder, die nach Indien und in die Kammerbühne übertragen und dort projiziert werden. Zeitgleich werden die Sounds im White Cube des Theaters von Ephraim Wegner per Granularynthese in diskrete Soundpartikel zerlegt und eingespielt. Smith, Wegner und Khan treten so in einen musikalisch-visuell-körperlichen Dialog, um »auf einer gemeinsamen Zeitwelle zu surfen«. Der zugrundeliegende Rhythmus der Performance ist nur in der medialen Vermittlung erfahrbar.

»Aus dem Chaos werden Milieus und Rhythmen geboren. Der Rhythmus ist das Ungleiche und Inkommensurable, das ständig transcodiert wird, er verknüpft sich mit dem Übergang von einem Milieu in ein anderes.«

Deleuze/Guattari in Tausend Plateaus (1980, S. 429)

Die beiden Musiker und der Tänzer sind dabei an ihren Orten in jeweils eigene Umweltzusammenhänge eingebettet. Mit den umliegenden Aktanten in Bangalore und an den beiden Schauplätzen in Freiburg werden so lokale Funktionskreise mit spezifischen Temporalstrukturen in Gang gesetzt, die in das Geschehen als Tranceinduktion hineinwirken. Die physischen Umgebungen erfahren über die translokale Verbindung eine De- und Rematerialisierung sowie De- und Reterritorialisierungen, während sich die Körper der Improvisationskünstler als kinästhetische Amöben in ein ortloses Handlungsfeld erweitern. In dieser zielorientierten Vermittlung soll durch situative Handlungszusammenhänge schließlich eine »Medialiät der Nähe« erzeugt werden. Das mediale Interplay soll im Sinne von Deleuze/Guattari als Strom ohne Anfang und Ende eine künstlerisch-performative Zwischenleiblichkeit generieren und deren Medialität neu lokalisieren und situieren.


Forschung nach dem »Dazwischen«

»Inmitten der zeitlichen Ströme gibt es ›Lager‹ und ›Lücken‹, die vage an Interferenzphänomene erinnern.« Sigfried Kracauer

Die translokale Begegnung der beteiligten Akteure wie Tänzer, Musiker, Techniker und Publikum findet während der Aufführung an mannigfaltigen, imaginativen Orten ausserhalb der technischen Verbindungslinien statt. In der ca. 30-minütigen Skypeperformance versuchen die Akteure daher, diesen hyperlokalen Zwischenraum mit einem Dritten Körper (Theweleit) bzw. einem Biomediated Body (Clough) zu füllen, indem sie mit und durch ihre Aktionen eine Affektzone und eine zwischenleibliche Resonanz aufbauen.

»Die Mitte ist hier kein Mittelwert, sondern im Gegenteil der Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden. Zwischen den Dingen bezeichnet keine lokalisierbare Beziehung, sondern eine transversale Bewegung, die in die eine und in die andere Richtung geht, ein Strom ohne Anfang und Ende, der seine beiden Ufer unterspült und in der Mitte immer schneller fließt.«
Deleuze/Guattari

Embedded Phase Delay soll in diesem Sinne eine mediale Dazwischenkunft (Tholen) zweier Musiker und eines Tänzers mit Hilfe von rhythmischen Resonanzphänomenen schaffen. Das Delay der Datenübertragung generiert neben der fehlenden Halbsekunde (siehe unten) auf Seiten der Performer zudem eine technische temp perdu innnerhalb komplexer Affektzonen.

Zu untersuchen ist nun, ob in diesem Zell- und Handlungsgewebe die oszillierenden Übertragungslücken nur verloren sind, oder ob sich diese Momente mit Interaktionserfahrungen und Affekten füllen lassen, durch die Emergenzphänomene organischer Schwing9ungen und Interferenzen sichtbar werden. Wie verändern sich die Propriozeption, das Körpergefühl, das Zeit- und Raumempfinden der beteiligten Personen? Wie entwickeln sich Takt, Stimmung, Tempo, Dauer, Atem, Körper-Performanz und das bewegte Bild im medialen Dazwischen?

Systemskizze: Laut Leibniz gleicht die Gesamtheit des Universums »dem Materie-Tang, in dem es verschiedene Ströme und Wellen gibt.« Brief an Gilles Falaiseau des Billettes vom Dezember 1696. In: Gerhardt, C.J. (Hg:) (1899): Leibnitz. Die philosophischen Schriften, VII, 452.

Fragestellung und Theorie

Die Allgegenwart der elektronischen Hypersphäre weicht das Körperempfinden zunehmend auf. Umhüllt vom Rauschen der Cloud verliert das »postmediale Selbst« an Kontur. Die zeitlichen und räumlichen Topologien des Ich erfahren immer neue Faltungen und Teilungen.

Ein zentrales Merkmal der Postmedialität ist der Paradigmenwechsel von linearen zu simultanen Zeit- und Raumerfahrungen. Die ubiquitäre Verbreitung von Smartphones führt zu einer engmaschigen Verflechtung des Körper- und Umwelterlebens mit digitalen Hüllen, Häuten und Sphären. Multiple »Gleichzeitigkeits-Plateaus«, »Heterochronien« (Großklaus 1995/2007) und mediale Heterotopien sind die Folge.

Autografische Kurven eines Froschmuskels – Helmholtz, 1851 Wellenproduktion. Chronofotografie – Marey, 1880

Zwischen Stimulation und Kontraktion eines Froschmuskels liegt laut den Beobachtungen von Herrmann v. Helmholtz eine halbe Sekunde - zwischen Reiz und Reaktion vergeht also messbare, aber subjektiv nicht wahrgenommene Zeit. Helmholtz nennt dieses Bewusstseinsphänomen schon ein halbes Jahrhundert vor Marcel Proust eine temps perdu und notiert: »Was wir thun, wissen wir nicht unmittelbar.«

In seinem Artikel ›The Skin is faster than the Word‹ nimmt der kanadische Philosoph Brian Massumi Bezug auf das Phänomen der mittlerweile auch medienwissenschaftlich einschlägigen fehlenden Halbsekunde. Bei Massumi ist diese Zeitspanne jedoch nicht einfach verloren, sondern eine dichte Zwischenzone und ein Relais voller Affekte. Diese wirken nicht nur in der Gegenwart, sie sind vielmehr zwischen Immer-schon-Vergangen und zeitlich Noch-Nicht lokalisiert:

»Brain and skin form a resonating vessel. Stimulation turns inward, is folded into the body, except that there is no inside for it to be in, because the body is radically open, absorbing impulses quicker than they can be perceived. (…) The mysterious half-second is missed not because it is empty, but because it is overfull.«

Der Affekt in der fehlenden Halbsekunde wird aus dieser Perspektive zum eigentlichen Medium der Verbindung. Die Kölner Medienwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer betont, dass Empfinden, Gefühl und Affekt auf »eine physikalisch-elementare Dimension zielen, die sich zwischen den Intervallen von Gehirn, Zelle, Nerven u.a. ereignet.« Der Philosoph und Mathematiker Whitehead versteht Subjektivität in diesem Sinne als Zone der verlorenen Zeit und als eine Art von Dazwischensein:

»Das Leben liegt in den Zwischenräumen jeder lebenden Zelle und in den Zwischen-räumen des Gehirns verborgen.« Alfred North Whitehead

Als Arbeitsthese wird davon ausgegangen, dass Kommunikation über digitale Kanäle die Gegenwart in Punkte und Linien zerlegt und das subjektive Erleben an Dauer verliert.

Die Performance ist daher nicht auf funktionierende Synchronizität und Gleichklang ausgelegt, und soll auch nicht vermessen werden, sondern sich eher im Sinne von Bergson als eine Erfahrung von inner- bzw. intrapsychischer durée in fortwährender Bewegung entfalten. Dauer ist laut Bergson ein unentwegter Fluß, das »ununterbrochene Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt und im Vorrücken anschwillt.« Das gerade eben Vergangene, das Gegenwärtige und das Antizipative werden in diesem Sinne als koexistierende Sphären (Deleuze) in den fehlenden Halbsekunden der je entstehenden komplexe überpersonalen umweltbezogenen Handlungskörper präsent.

LITERATUR

Abend, Haupts, Müller (Hg.): (2012) Medialität der Nähe. Bielefeld: transcript
Marie Luise Angerer (2012): Die Zeit des Affekts. Vortrag Leipzig *
Patricia T. Clough (2010): The Affective Turn: Political Economy, Biomedia, and Bodies. Zitiert nach Angerer
Deleuze/Guattari (1992): Tausend Plateaus. Berlin: Merve
Deleuze (1988): Die Falte. Frankfurt: Suhrkamp
Henning Schmidgen (2009): Die Helmholtz-Kurven. Berlin: Merve
Brian Massumi (2002): Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation. Duke University
Brian Massumi (2010): Ontomacht. Die Verbindung audrücken. Berlin: Merve
Alfred North Whitehead (1987): Prozeß und Realität: Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt: Suhrkamp
Kerstin Volland (2009): Zeitspieler. Inszenierungen bei Bergson, Deleuze und Lynch. Wiesbaden: Springer